Vom Kontrollverlust in die Ohnmacht.
Es lebt sich anstrengend. Seit vielen Monaten. Aus dem anfänglichen Ausnahmezustand ist ein Dauerzustand geworden: Führung als Remote-Version, Arbeiten im Homeoffice, Balanceakt zwischen Job und Kinderbetreuung, reduzierte Beziehungswelten. Gesellschaft, Unternehmen und Individuen kommen an ihre Grenzen: Haben wir eigentlich noch irgendetwas im Griff?
Ein Gefühl von Kontrollverlust macht sich breit – allmählich ist unser Intellekt mit dem Dauerstresspegel überfordert und droht mit Kapitulation. Jetzt rutscht das Thema (endlich!) vom Kopf ins Herz. Es geht in die Tiefe, auf die Gefühlsebene: So mancher empfindet Ohnmacht und Hilflosigkeit, und gleich um die Ecke lauert die Angst. Wir betreten einen Grenzbereich, den schmalen Grat zum Trauma: Alte traumatische Wunden könnten wieder aufbrechen, neue Traumata entstehen. Gleichzeitig bietet sich uns die Chance, wieder intensiver mit uns selbst und unserem Körper in Kontakt zu kommen.
Führung im Spannungsfeld von Widersprüchlichkeiten
Woran erkennen wir, dass da etwas aus der Balance geraten ist? Wenn unsere Psyche in die Instabilität rutscht, liegt zunächst der Versuch nahe, die Kontrolle zurückzugewinnen. Das zeigt sich unter anderem in einem Verhalten, das moralische Werturteile über Erklärungsnotwendigkeiten stellt. Wir beginnen, eindimensional zu denken und zu handeln – weil Vielschichtigkeit nur noch mehr „Stress“ bedeutet. Zur Not machen wir dazu unseren Machtanspruch stärker geltend als je zuvor. Wer auf innere Stabilität bauen kann, der schafft es jetzt, Gefühle wie Angst und Unsicherheit aushalten zu können – und auch anderen in diesem Prozess Halt zu geben.
Ein Beispiel: Uwe ist Führungskraft bei einer großen Versicherungsgesellschaft. Seit Monaten treffen er und sein Team sich im Remote-Format. Technisch läuft alles rund, die Meetings sind produktiv und es gibt viele positive Rückmeldungen zum neuen Arbeits-Alltag. Seit neuestem beschleicht ihn bei dem ein oder anderen Mitarbeiter ein mulmiges Gefühl, und auch im Team mehren sich emotionsgeladene Diskussionen, Spannungen und unterschiedliche Sichtweisen. Und dann passiert es, mitten im Remote-Meeting: Kontrollverlust. Uwe kann sich nicht mehr erinnern, was der Auslöser war, aber Sabrina beginnt zu weinen. Kann die Tränen nicht mehr stoppen. Antwortet anfänglich noch auf Nachfragen. Wird wortkarg. Weint immer heftiger. Schreit. Unverständlich. Die anderen Teammitglieder verunsichert. Fragen nach. Einer. Viele. Alle. Schriftlich. Mündlich. Ohne Antwort. Nur eine Reaktion: herzzerreißendes Weinen. Der Bildschirm schwarz. Das Audio aus. Ein Anruf vergebens. Mehrere vergebens. Mails… Das Meeting endet abrupt. In Hilflosigkeit.
Zwei zentrale Fragen: Wie kann ich Sabrina erreichen? Und wie gehen wir als Team mit dieser Situation um?
Wie sehen derzeit deine kleinen und großen Situationen der Ohnmacht aus? Und wie schaffst Du es wieder in deine Handlungsfähigkeit? Wie findest du (wieder) Zugang zu deiner inneren Stabilität?
Dein Recht auf Unzulänglichkeit oder: Fuck perfect
Warum fühlt sich Ohnmacht überhaupt so unangenehm an? Warum können wir es nur schwer aushalten, wenn uns die Dinge scheinbar entgleiten und diffuse Ängste an die Oberfläche wabern?
Ich denke, das ist so, weil sich unsere Gesellschaft gnadenlos auf die Yang-Seite der Dinge fokussiert: Licht, Wachstum, Power. Die andere Seite der Medaille – Emotionen, Verletzlichkeit, Unzulänglichkeit – wird ausgeblendet. Wir haben gelernt: Wer erfolgreich sein will, darf keine Gefühle zeigen – und Gefühle der Ohnmacht schon mal gar nicht. Dabei ist es ur-menschlich, nicht immer alles im Griff zu haben. Auch wenn es paradox klingt: Es ist ein Zeichen von Stärke, offen zu dem eigenen Gefühl von Schwäche zu stehen.
Warum also sprechen wir unsere Ohnmacht nicht einfach an? Beschreiben und benennen sie? Denn auch im Umgang mit der Ohnmacht gilt das bekannte Prinzip: Sobald du den „Gegner“ beim Namen nennst und entlarvst, verliert er seinen Schrecken …
Der Ohnmacht ins Auge blicken
Du hast es sicher schon bemerkt: Mein Anliegen mit diesem Artikel ist es, zum Nachdenken anzuregen, sensibel zu machen für Führung in Zeiten der Ohnmacht. Gerne möchte ich dazu mit dir in den Erfahrungsaustausch gehen. Vielleicht magst du mit mir über folgende Fragen reflektieren:
1. Beschreibe eine Situation, in der du dich ohnmächtig fühlst. Was fühlst du angesichts dieser Situation?
2. Was hilft dir im Umgang mit deiner persönlichen Ohnmacht? Welche Strategien wendest du an, um wieder in die Handlungsfähigkeit zu kommen?
3. Unter der Ohnmacht liegt die Angst – und manchmal auch das Trauma. Setzt du dich bewusst mit deinen Ängsten/den Ängsten deiner Mitarbeiter*innen auseinander? Wie machst du das?
Ermutigen wir uns doch gegenseitig, Ohnmacht zu zeigen und offen damit umzugehen. Denn solange wir die Ohnmacht (und Emotionen generell) nicht bewusst zulassen und begleiten, kehren wir sie unter den Teppich – und da kriecht sie sowieso irgendwann wieder heraus. Indem wir uns jedoch aktiv mit unserer eigenen Ohnmacht auseinandersetzen, überwinden wir die Abhängigkeiten, die diese Ohnmacht verursachen. Erfahren, an welchen Punkten unsere innere Stabilität tragfähig ist oder wo noch Entwicklungspotenziale sind. Und werden wieder handlungsfähig.
Diskutierst du mit? Ich freue mich darauf, zu erfahren, mit welchen Verhaltensmustern und Strategien du der Ohnmacht ins Auge blickst! Gib mir gerne Feedback unten in den Kommentaren oder schreib mir eine Mail.
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