Die vier Gewänder (nach Virginia Satir)

Beziehungen gestalten
Beziehungen gestalten

Reaktionsmuster sind wie Gewänder, die wir überstreifen.

Ob Streit mit dem Vorgesetzten, Umgang mit Krisen, Konflikte im Team: Nehmen wir im menschlichen Miteinander eine Bedrohung wahr – unterschwellig-diffus oder klar fühlbar –neigen wir dazu, nach liebgewonnen Mustern darauf zu reagieren. Im täglichen Miteinander oder in Führungssituationen gebrauchen Menschen Reaktionsmuster. Das passiert automatisch – besonders in Zeiten von Unsicherheit und Angst. Und es passiert unbewusst. Deshalb bestreiten viele von uns, überhaupt nach solchen Mustern zu handeln. 

Wie genau funktionieren solche Reaktionsmuster? Wir können uns das so vorstellen, als schlüpften wir rasch in ein uns vertrautes Gewand. So unterschiedlich die Menschen und Situationen, so unterschiedlich auch die Gewänder. Doch eins ist allen gemeinsam: Sie umhüllen unsere Bedürfnisse und verbergen Ängste oder vermeintliche Unzulänglichkeiten. Wir verstecken uns äußerlich in unseren Kleidern, weil wir unserem Gegenüber unser Inneres nicht preisgeben möchten.

„Kleider machen Leute“, lautet das bekannte Sprichwort. Auch du bist im Außen mit deinem Kleid sichtbar. Deine darunter verborgenen Bedürfnisse nimmst (manchmal) nicht einmal du selbst wirklich in Augenschein. Es fällt dir schwer, sie auszusprechen, zu teilen und nach außen zu zeigen. 

Vier Reaktionsmuster nach Virginia Satir

Die Psycho- und Familientherapeutin Virginia Satir beschreibt vier Reaktionsmuster, die wir universell nutzen, wenn wir mit anderen in Beziehung treten. Diese Muster können wir uns vorstellen wie ein „Gewand“, in das wir förmlich hineinschlüpfen. In unseren Gesprächen, Kontakten, Begegnungen sprechen wir dann aus diesen Kleidern heraus – sie prägen unseren Umgang mit anderen. Unser Körperausdruck passt sich dabei interessanterweise sofort dem jeweiligen Kleid an. 

Allerdings gestaltet sich der Kontakt zu unserem Gegenüber aus den Gewändern heraus nicht wirklich gut. Bei der folgenden Übung geht es in einem ersten Schritt darum, die verschiedenen Gewänder anzuprobieren und kennenzulernen – um sie dann in deinem Alltag besser zu erkennen. (Fortsetzung folgt im nächsten Blogbeitrag …)

Hereinspaziert in den Kleiderschrank unserer Reaktionsmuster

Kommst du mit auf eine Erkundungstour durch den Kleiderschrank unserer Reaktionsmuster? Wenn du die Reaktionsmuster mit Herz und Kopf verstehen magst, schenke dir die Erlaubnis, die Muster auch mit dem Körper einzunehmen (für etwa ein bis zwei Minuten). Lass dich von den Kleidern berühren. Spüre und fühle. Und übertreibe ruhig, wenn du magst, denn das verstärkt die Empfindungen. Übrigens: Du darfst jedes Gewand sofort wieder ablegen, wenn es dir nicht gefällt. Die Kleiderstange ist da ganz unparteiisch …

Tipp: Vielleicht magst du dir die Texte von jemandem vorlesen lassen oder nimmst sie zuvor als Sprachmemo auf, dann kannst du dich mehr auf das jeweilige Kleid einlassen.

Gewand Nr. 1: Beschwichtigen. Bitte einmal hineinschlüpfen.

Knie dich hin. Stell ein Bein dabei auf. Bleibe in der Instabilität. Streck eine Hand bittend nach oben aus. Die andere kreuzt deinen Brustkorb und hält ihn seitlich fest. Richte deinen Blick nach oben, den Kopf in den Nacken gelegt. Flehend und demütig. Die Kehle offen und ungeschützt. Die Stimme leise und flehend. Bereit zum „Ja“-Sagen. Die Entschuldigung in Griffweite. Und die Beteuerung „Ich bin da. Nur für dich.“ Mische noch etwas „Ich bin weniger wert als du“ oder „Ich tue alles, damit es dir gut geht“ in deine Gedankengänge. Und lasse deine Ohren Botschaften hören wie „Sei nicht egoistisch“ oder „Dräng dich nicht auf“.

Beschwichtigen, damit der andere nicht ärgerlich wird

Hast du dir erlaubt zu fühlen?
Kommt dir dieses Reaktionsmuster vertraut und bekannt vor? Oder fremd?
Wo ruft es Widerstand hervor? Und welche Vorzüge und Fähigkeiten verleiht es Dir?
Wie gelingt es dir, aus diesem Kleid heraus Entscheidungen zu treffen?
Wieviel Wertschätzung für dich steckt in diesem Gewand? Wieviel Achtsamkeit?
Was brauchst du?

 

Gewand Nr. 2: Anklagen. Bitte hineinschlüpfen.

Mache einen Schritt nach vorne. Spiele mit deinem Gewicht. Verlagere es mal nach vorne, mal nach hinten. Stemme dabei eine Hand in die Hüfte. Der andere Arm geht in die Streckung nach vorne, angeführt vom ausgestreckten Zeigefinger. Spanne die Halsmuskeln an. Verzerre dein Gesicht. Die Lippen sind gekräuselt. Die Nasenflügel vibrieren. Die Augen schmale Schlitze. Die Atmung ist eng, kommt in kleinen Stößen. Klage dabei an. Laut. Bestimmend. Wissend. Beschuldigend. Absolut. „Nie“. „Immer“. „Wenn…, dann…“. „Du machst alles falsch!“ Lasse ganz still und heimlich aufkeimen: „Ich bin einsam“. „Ich bin etwas wert, wenn man mir gehorcht“. Und höre zugleich eine Stimme sagen: „Lass dir das nicht gefallen!“ und „Sei kein Feigling!“.

Anklagen, damit einen der Andere für stark hält

Kommt dir das bekannt vor?
Trägst auch du dieses Gewand zu bestimmten Zeiten?
Kannst du dich zu diesem Kleid bekennen? Oder lässt du es direkt links liegen?
Welche Vorteile verleiht es dir? Was gelingt darin leicht(er)?
Was lässt sich in diesem Gewand nur schwer ermöglichen?

 

Gewand Nr. 3: Rationalisieren. Einmal eintauchen.

Ob im Sitzen oder Stehen. Stell dir vor, deine Wirkbelsäule ist ein langer, schwerer Stab aus Stahl. Du bekommst Übergewicht nach hinten. Überstrecke dich. Dein Genick ist lang. Der Kopf zieht nach oben, hinten. Gehalten durch einen Eisenkragen. Gespannt. Bewegungslos: Gesicht, Hände, Beine. Gefühllos. Wortkarg. Du umgibst dich mit kühler Vernunft. Korrekt, trocken, unpersönlich: „Man“. „Sie“. Nicht ich. In voller Passivität verharrend. „Daran wird etwas verändert werden müssen“. Mische innerlich gerne noch Gedanken bei wie „Ich darf keinen Fehler machen oder die Kontrolle verlieren“ oder „Nur ja keine Gefühle zeigen“. Zugleich hörst du Stimmen wie „Pass bloß auf!“ „Lass dir nichts anmerken!“

Rationalisieren, damit einen der Andere für kompetent und klug hält

Wie fühlt sich dein Körper an?
Was gelingt dir leicht aus diesem Gewand heraus? Was schwer?
Wieviel Freiheit schenkt dir dieses Gewand für Bewegung, Vielfalt oder Kreativität?
Wie begegnest du Kontrolle und Struktur?
Gelingt dir ein Hinwegsehen über Ungenauigkeiten?

Bitte zurück auf den Kleiderhaken.

Und zu guter Letzt:

Gewand Nr. 4: Ablenken. Einmal anlegen.

Lass deinen Kopf unkontrolliert zur Seite sinken. Kreisend und in Bewegung bleibend. Dein Blick schweift mit. Suchend findet er weder Anfang noch Ende. Dein Mund stammelt Belangloses, wirre Fragen. Deine Ohren stehen auf Durchzug geschaltet. Du bist beziehungslos, sprunghaft, chaotisch. Im Reden: „Nein. Oder halt, doch. Moment!“. Und in der Bewegung: Unkontrolliert und fahrig. So als hättest du tausend Bälle gleichzeitig in der Luft. Ganz sacht rühren sich Gefühle. Gekleidet in Sätze wie „Es hat alles keinen Sinn.“ „Ich schaff das nicht“ oder „Ich gehöre nirgends hin“. Und es gibt auch andere Stimmen: „Das macht dir doch nichts“ oder „Mach das Beste draus“.

Ablenken, damit einen der Andere für locker und lässig hält

Wie kleidet es sich mit diesem Gewand?
Vertraut oder befremdlich?
Welche Widerstände ruft es hervor? Welche Glanzseiten zeigt es auf?
Was machen Struktur und Verbindlichkeit mit dir?
Wie reagierst du auf Freiräume und Unwägbarkeiten?
Was geschieht mit dir in diesem Kleid, wenn du auf Zuwendung triffst?

Und zurück auf die Kleiderstange.

Meine Kleiderstange. Deine Kleiderstange.

Vielleicht magst du in den kommenden Tagen wachsam sein und Ausschau halten, wie du Dich kleidest. Bei wem und wann du dir welches Gewand gönnst. Und: wie dir damit der Kontakt bzw. das Führen gelingt. Welches Gewand kommt dir entgegen? Welches schmeichelt dir mehr, welches weniger? Und: wie gestaltet ihr damit eure Beziehung? Ich lade dich ein, achtsam hinzusehen. Du gewinnst Bewusstsein über deine Reaktionsmuster. Neue Räume öffnen sich für eine selbstverantwortliche Gestaltung deiner Beziehungen. Rührt sich ein Impuls? Bewusst (und vielleicht anders) zu handeln?

Ich bin sehr gespannt auf deine Erfahrungen mit der Kleiderschrank-Übung! Teile sie gerne hier im Blog, per E-Mail oder auch anders.

Übrigens: Im nächsten Blogbeitrag folgt Teil Zwei zum Thema „Reaktionsmuster“. Es wird dabei weniger um Kleider gehen, sondern um eine Art „Lupenblick“ – für eine Führungskultur mit Selbstwert, Integrität, Verantwortung und Ehrlichkeit. Stay tuned! Deine Angela

Bild-Quelle und Lektüre zum Vertiefen:
Virginia Satir. (2018). Selbstwert und Kommunikation: Familientherapie für Berater und zur Selbsthilfe. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.


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